Sogar die Hausarbeit, einschließlich Küchendienst, läuft bei Tindari und Genossen mit der harmonischen Disziplin einer Großfamilie ab. Nicht ein lauter Streit in fünf Jahren hat die Nachbarschaft daran erinnert, daß "die von nebenan" merkwürdige, aber friedliche Verrückte aus der Irrenanstalt sind. Mit der Psychiatriereform von 1978 kamen sie in die Freiheit.
Auf Tindari und seine Freunde wirkte die Freiheit heilsam. Jeden Morgen schrillt in der Via del Casaletto um sechs schon der Wecker. Denn fünf Mann der sechsköpfigen Wohngemeinschaft, die rund um die Uhr von einer Sozialtherapeutin betreut wird, arbeiten in der landwirtschaftlichen Bio-Genossenschaft "Der Traktor", gleich nebenan.
Die staatliche Monatsrente von rund 300 Mark pro Kopf ging den Patienten dabei flöten. Doch die stolze Genugtuung, trotz schizophrener Anfälle in dieser verrückten Welt noch nützlich sein zu können und mit eigener Kraft monatlich 600 Mark zu verdienen, macht die sechs irgendwie glücklich.
Was aber heißt das schon, wenn die Reformträger, die städtischen Behörden, sich als Henker bewähren wollen: Eine Räumungsklage des Sozialamts will jetzt die sechs Verrückten aus der Via del Casaletto verjagen, weil "die Patienten nicht mehr krank sind und ihre Wohnung nicht der Vorschrift entspricht".
Der kafkaeske Vorgang hätte gut in Milos Formans Film "Einer flog über das Kuckucksnest" hineingepaßt. "Glatter Wahnsinn", kommentiert der KPI-Experte für Gesundheitsfragen, Augusto Battaglia, auf dem römischen Kapitol die Entscheidung: "Anstatt die alternativen Strukturen zu verstärken, bestraft man willkürlich jene, die mit ihnen ein neues Gleichgewicht gefunden haben."
Widersprüchlich und absurd ist nicht nur dieser Fall. Dramen und Tragödien ohne Ende produzierte die italienische Psychiatriereform seit ihrem Beginn vor zehn Jahren - das kühne Projekt blieb in den Anfängen stecken: Der nationale Gesundheitsdienst und die Gesundheitsminister in Rom boykottierten das Reformgesetz, das 1978 vom italienischen Parlament verabschiedet wurde.
Zwar wurden die in Italien besonders verwahrlosten früheren Nervenheilanstalten abgeschafft und 70 000 der insgesamt 100 000 Psycho-Patienten entlassen. Die neugewonnene Freiheit aber führte sie in eine Sackgasse: Niemand baute das dichte Netz dezentralisierter Therapiezentren auf, das, dem Psychiatriegesetz entsprechend, mit der schrittweisen Schließung der Irrenhäuser einhergehen sollte.
Weil es an Auffangstationen fehlte, blieben 60 der meist uralten Irrenanstalten in _(Bei einem Festumzug. )
Betrieb; sie beherbergen überwiegend greise oder hilflose Patienten. Für die nach Hause geschickten Kranken fehlt seit der gesetzlich verfügten Reform jeder wirkungsvolle Gesundheitsdienst.
"La liberta e terapeutica", Freiheit heilt, mit dieser verheißungsvollen Parole hatte die Reformbewegung der "psichiatria democratica" in den sechziger Jahren begonnen. Die ersten Schritte auf dem Weg zu einer humanen Psychiatrie erprobte Vorkämpfer Franco Basaglia mit gleichgesinnten Kollegen in Gorizia, nahe der jugoslawischen Grenze; als Vorbilder dienten Experimente in Großbritannien und den Niederlanden.
Als Basaglia 1971 Leiter der Triester Nervenklinik San Giovanni wurde, schaffte er dort sofort die "Folterkammer", die geschlossene Abteilung, ab. Patienten, die jahre-, manchmal jahrzehntelang eingekerkert waren, durften nun durch die Stadt bummeln. Wenn sie mal verlorengingen, brachten besorgte Bürger sie zurück.
Diese über Jahre erprobten Versuche führten 1978 zur "legge 180", einem Rahmengesetz, das mit Hilfe der Kommunistischen Partei, der Sozialisten und progressiver Christdemokraten im Parlament durchgefochten wurde. Bis 1983 sollten danach alle Heilanstalten geschlossen und genügend Auffangstellen für die Freigelassenen ausgebaut sein.
An allen allgemeinen Krankenhäusern sollten ferner Notstationen mit je 15 Betten für psychisch Kranke eingerichtet werden. Psychiatriezentren, "Centri d''Igiene Mentale" (CIM), sollten die Kranken ambulant betreuen und bei Krisenattacken - ähnlich wie die britischen "day hospitals" - auch stationär aufnehmen.
Doch aus der "Utopie Basaglia", so die Gesetzesgegner, wurde nichts. Eine vom Umfrage-Institut Censis durchgeführte, zunächst geheimgehaltene Überprüfung von 236 psychiatrischen Diagnose- und Behandlungszentren enthüllte jetzt, daß 8,5 Millionen Italiener (14,8 Prozent der Gesamtbevölkerung) in Gegenden wohnen, in denen jede ärztliche Betreuung von Psychokranken fehlt.
Nur in rund 14 Prozent der Regionen finden Familien, die ihre heimgekehrten kranken Angehörigen aufnehmen mußten, ausreichende Unterstützung. Gut funktionierende Zentren wurden fast nur in den sechs Nord-Regionen Italiens eingerichtet. Im Süden, aber auch in der Hauptstadt, bietet sich ein eher trostloses Bild: In der Vier-Millionen-Stadt Rom stehen in drei Krankenhäusern ganze 45 Betten für die Notaufnahme akuter Fälle zur Verfügung.
Im "Lager von Rom", der einst finsteren Irrenanstalt "Santa Maria della Pieta", die früher 1700 Patienten beherbergte, hausen heute noch 700 Kranke in einem "Klima äußerster Verwahrlosung", wie die römische Tageszeitung "la Repubblica" formulierte. Die zuständigen 25 Ärzte und 273 Pfleger klagen über die "unmenschlichen Zustände", unter denen sie arbeiten müssen. Nicht nur qualifiziertes Personal, auch Sportplätze und Freizeitzentren fehlen. Selbst für die Medizin und die Patientenwäsche reichen die Mittel oft nicht aus.
Dabei verplempert der italienische Staat jährlich 1200 Milliarden Lire (1,6 Milliarden Mark) für chaotisch organisierte und schlecht ausgerüstete Ambulatorien; mit 1800 Milliarden Lire (2,4 Milliarden Mark) subventioniert er private Kliniken, in denen vor allem wohlhabende Psycho-Patienten Zuflucht finden.
Niemand - außer ein paar neugierigen Untersuchungsrichtern - weiß genau, wo das viele Geld hingeht. Die immer noch 400 Patienten der Nervenheilanstalt in Reggio Calabria besitzen weder Schuhe noch Schlafanzüge. Sie wurden um ihre Rente betrogen. Wegen Baufälligkeit des Gebäudes mußten sie Hals über Kopf evakuiert werden.
In Palermo gab der verantwortliche Verwaltungsdirektor der Städtischen Irrenanstalt, Professor Salvatore Lauro, auf einer Pressekonferenz bekannt, daß seine Patienten unterernährt seien und ihnen "fast alles", Kleider, Matratzen, Decken, Toilettenpapier und Seife, fehle, weil das örtliche Gesundheitsamt die Unterstützung verweigere. Entlassene Patienten enden, weil ihre Familien sie häufig ablehnen, als Bettler und Tippelbrüder, die, wenn sie die Ordnung stören oder aggressiv sind, von der Polizei eingesammelt werden.
So kam die Psychiatriereform vollends unter die Räder. 1981, drei Jahre nach ihrer Verabschiedung, war sie noch Bestandteil einer umfassenden Gesundheitsreform, die allen Italienern kostenlose Arzt- und Klinikbehandlung garantieren sollte.
Doch die staatliche Gesundheitsbetreuung führte zur Politisierung der 650 _(In der Via del Casaletto. ) lokalen Gesundheitszentren: Nicht Ärzte, sondern kleine Parteifunktionäre entschieden über die Volksgesundheit. Der Proporz bestimmt oder blockiert seither selbst kleinste Verwaltungsakte.
Der kommunistische Bürgermeister von Montesangiusto in den Marken, Giulio Silenzi, 37, hat das erleben müssen. Als in seiner Gemeinde acht Jahre nach der Gesundheitsreform noch jede psychiatrische Betreuung fehlte, obwohl die notwendigen 100 000 Mark für das erste Irren-Wohnheim auf dem Banckonto lagen, entschloß sich der Rathaus-Chef zum Hungerstreik.
Vier Tage lebte er nur von drei Cappuccinos täglich. Den streitsüchtigen Gemeinderat brachte er damit endlich zur Räson. Die Stadtpolitiker aus fünf Parteien hatten sich, wie auch anderswo üblich, über das geplante Wohnheim zerstritten, sie fürchteten Stimmenverluste vor der Wahl, wenn plötzlich die Verrückten frei herumliefen.
Immer häufiger geht jetzt die Staatsanwaltschaft wegen Schlamperei in den Gesundheitszentren gegen lokale Parteibarone vor. Nach Palermo müssen sich in der kalabrischen Provinzhauptstadt der christdemokratische Verwaltungschef des örtlichen Gesundheitsdienstes und seine acht Mitverwalter verantworten, weil in der Nervenheilanstalt in ihrer Obhut alles drunter und drüber ging.
In Rom erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen die Region Latium und die römische Stadtverwaltung, weil sie gesetzeswidrig auch nach der Gesundheitsreform private Kliniken mit staatlichen Zuschüssen füttern, die vorgeschriebenen Wohnheime und Rehabilitierungszentren jedoch nicht einrichten.
Im Wirrwarr neuer und alter Instanzen weiß niemand mehr, wer für bestimmte Leiden wie etwa die schwere Enzephalie zuständig ist. So wird der Aufnahmeantrag der 25jährigen Patientin Pia, die seit ihrer Geburt gehirngeschädigt ist, schon seit Jahren zwischen den Gesundheitsbehörden hin- und hergeschoben: Angeblich ist weit und breit kein Pflegeheim für Fälle wie Pia zu finden. Auch dieser Kasus endete vor Gericht.
Im Verfahren gegen eine säumige Sozialarbeiterin in der römischen Stadtverwaltung, die sich um Pia hätte kümmern sollen, stellte der Richter fest, daß die Notstation im Krankenhaus Forlanini in der Tat für die Patientin nicht zuständig sei und das Mädchen daher auch mit Recht vor die Tür gesetzt werden dürfe. Pias Odyssee geht weiter.
Die Senatorin Franca Ongaro Basaglia, 60, Witwe des Reform-Urhebers Franco Basaglia, vermutet hinter solchen Schikanen einen "politischen und kulturellen Boykott" der Ärzteschaft. Unter dem Vorwand, das Reformgesetz leugne die Existenz von Geisteskrankheiten, lancierten die Doktoren in den letzten acht Jahren 13 neue Gesetzentwürfe, mit denen sie die Wiedereinführung der geschlossenen Anstalten erzwingen wollten. Immer wieder gab der Protest von Familien, die mit der Pflege ihrer geisteskranken Kinder nicht zu Rande kamen, neuen Zündstoff gegen die Reform.
Franca Ongaro Basaglia, Mitstreiterin der ersten Stunde für die "psichiatria democratica", ließ sich vor fünf Jahren in den Senat wählen, um die scheiternde Reform doch noch zu retten. Es gebe, meint sie, erbitterten Widerstand gegen das Gesetz 180, weil es "die absolute Rückständigkeit unserer Irrenhäuser aufgedeckt und in aller Öffentlichkeit einen Berufsstand diskriminiert hat, der die Verwahr-Psychiatrie mitgetragen hatte".
Doch trotz der Querschüsse aus Politik und Ärzteschaft war nicht alles vergeblich. Wichtige und weiterwirkende Gruppen haben überlebt, vor allem da, wo sich Irre unter Anleitung von Therapeuten inzwischen selbst verwalten.
Im römischen Getto-Vorort Primavalle führte der Psychiater Massimo Mara sieben Ex-Insassen der Irrenanstalt Santa Maria della Pieta zu einer Therapiegemeinschaft zusammen. Seine Schützlinge arbeiten alle in einer Spielzeugschreinerei, die Mara für sie aufbaute. Auch eine Wohnung wurde für die Gruppe gefunden. Als die Möbel eintrafen, organisierte die neue Nachbarschaft ein Fest mit Kuchen und Wein für den Einzug.
Landesweit 100 Kooperativen mit 8000 Mitgliedern - etwa in Triest, Arezzo, Turin und Pordenone - schreinern, stricken und gärtnern erfolgreich oder bewirtschaften Kantinen.
Mit seiner Irrengenossenschaft hat auch Professor Giorgio Antonuzzi innerhalb der Anstaltsmauern von Imola, unweit Bolognas, der demokratischen Psychiatrie Beine gemacht. Der Kloakenhof im Frauentrakt der Nervenheilanstalt, deren vormals 3000 Insassen auf 600 schrumpften, ist zu einem kleinen Garten erblüht. An den Kastanienbäumen in der Mitte wird kein Epileptiker mehr, wie früher, mit dem Kopf nach unten aufgehängt.
Die gestreiften Anstaltspyjamas wurden verbrannt.
Der 30jährige Giorgio Baldi präsentiert sich im Polohemd. "Mein ganzes Leben habe ich hier zugebracht", stottert er mit einem glücklichen Lächeln. "Bruder und Schwester, die nie zu mir in die Anstalt kamen, besuche ich jetzt gelegentlich."
Die hübschen, gepflegten Räume, einschließlich Kaffeebar, werden von den 490 Patienten mit ersparten Wohlfahrtsgroschen finanziert. Beschlossen wurde das Projekt gemeinsam von Patienten, Pflegern und Ärzten, nachdem die Gesundheitsbürokratie die Reform jahrelang verschleppt hatte. Nun soll die produktive Eigenmächtigkeit bestraft werden: Den Patienten droht die gesetzliche Entmündigung.
"Es ist uns allen bewußt, daß wir am äußersten Punkt angelangt sind" - so begründete Senatorin Ongaro Basaglia einen neuen Gesetzentwurf, den sie mit 23 kommunistischen und sozialistischen Senatoren der Unabhängigen Linken jetzt vorlegte. Das neue Gesetz fordert Sofortmaßnahmen und Strukturprogramme, die das Gesundheitsministerium schon für 1981 angekündigt hatte, die es aber bis heute schuldig blieb.
Diesmal, so verlangen die Reformer, müsse endlich auch das nötige Geld fließen - mindestens acht Prozent des nationalen Gesundheits-Etats seien dafür nötig.
Im Staatshaushalt von 1985 war für Psychiatrie- und Antidrogen-Zentren ein Posten von 740 Milliarden Lire eingeplant worden. Ausgezahlt wurde kaum mehr als ein Fünfundzwanzigstel der Summe - ganze 30 Milliarden Lire. Bei einem Festumzug. In der Via del Casaletto.
DER SPIEGEL 37/1988
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