Freitag, 30. September 2011

Erasmus in Triest: Vor der Entscheidung

Soll und kann ich überhaupt einen Erasmus-Austausch mitmachen? Zur einigermaßen objektiven Beantwortung dieser Grundsatzfrage sollte sich jeder ganz zu Beginn seiner Überlegungen zwingen, denn sie kann schon im Vorhinein u.U. ein erhebliches Problempotential aufwerfen. Das es Sinnvoll ist im Ausland zu studieren, stelle ich hier einmal ganz außer Frage – an dieser Stelle geht es um fundamentale Entscheidungsgrundlagen, die jeder bedenken sollte: 

Grundsätzliches
Was könnte wohl gegen einen Auslandsaufenthalt sprechen? Nun – es sind zum Einen die ganz weltlichen Dinge, die einem von Anfang an den Plan eines Studienaustauschs vermiesen können und die irgendwie fast immer und über beinahe jedem Studenten wie das vielzitierte Damokles-Schwert schweben. Wie sich die meisten jetzt schon denken können, geht es um das liebe Geld und die sooft damit gleichgesetzte Zeit.

Als Realist kommt man an dieser Fragestellung früher oder später nicht vorbei: Kann ich es mir überhaupt leisten, ein Jahr meines Studiums in Trieste zu "verschwenden", und wenn ja, kann ich das auch bezahlen?

Eine abschließende und allgemeingültige Antwort darauf kann auch ich nicht geben, jedoch möchte ich einige Denk- und Rechenansätze geben. 

Natürlich wird die überwiegende Mehrheit derer, die sich für ein Erasmus-Studium in Trieste entscheiden, dadurch mit einiger Gewissheit keine Studienzeit gutmachen. Anders gesagt: In Woche, und Monat gerechnet wird man dabei Studienzeit verlieren, also länger studieren müssen, als dies ohne einen Auslandsaufenthalt zu erwarten gewesen wäre, denn auch wenn man in Trieste an beliebig vielen Lehrveranstaltungen teilnehmen kann und diese dann auch z.T. mit dem europäischen Kreditpunktesystem an der Heimatuniversität angerechnet bekommt, ist es mehr als fraglich, ob man, sollte man dies denn wirklich anstreben, im Ausland dieselbe Studienleistung erbringen würde, wie dies in Göttingen der Fall gewesen wäre. Dies ist ein nicht von der Hand zu weisender Umstand.

Als Ex-Ökonom drängt sich mir an dieser Stelle bereits die Rechenaufgabe mit verlorenem Einkommen, welches man nach der früher beendeten Studienzeit bereits hätte erzielen können auf, aber ganz abseits von derart theoretischen Betrachtungen gibt es auch unmittelbar greif- und rechenbare (mehr-)Kosten, die ein solcher Trip mit sich bringt. 

Um, wieder einmal die sooft zitierte Objektivität heranzitierend, ein Äquivalent zum Göttinger Studentenleben hier in Trieste zu finanzieren, bedarf es meiner Überzeugung nach mehr Geld als dies im heimischen Göttingen zu berappen gewesen wäre. Ganz abgesehen von u.U. nicht unerheblichen Kosten, die die zwei Umzüge nach und von Trieste zurück mit sich bringen, sind meiner Erfahrung nach die Lebenshaltungskosten, immer vor dem Hintergrund eines gleichwertigen Aufenthalts Zuhause in Göttingen, also Miete, Lebensmittelkosten, Freizeitgestaltung etc., in Trieste höher. In Zahlen und Beträgen kann ich diese Mehrkosten nicht exakt beziffern, geschätzt belaufen sich diese jedoch auf rund 15-25%. 

Eine nicht unerheblicher Teil dieser Mehrkosten sind jedoch, und das sage ich, ohne einen Lösungsvorschlag anbieten zu können, Mehrkosten aufgrund der individuellen Umstände. Nicht jeder triestiner Student hat 20% mehr Mittel zur Verfügung als sein Göttinger Gegenüber – jedoch ist er Inländer, Italiener. Er weiß, wo man was günstig erstehen kann, ist ans einheimische System angepasst, kennt sich aus, weiß bescheid und kann sich helfen ohne dabei unnötig viel Geld ausgeben zu müssen. Je nach Flexibilität, Erfahrung und Anpassungsfähigkeit ist also dieses rein monetäre Problem durchaus in den Griff zu bekommen, zumal die Frage im Raum stehen bleiben kann, ob man denn wirklich ein zum heimischen Leben gleich(artig oder -wertiges) führen sollte oder muss. 

So ist ein Austausch sinnvollerweise als Gesamtprojekt zu erfassen, bei dem man mit vorhandenen Mitteln ein Ziel erreichen muss. Geht man den Aufenthalt auf diese Weise an, kann es eigentlich kein stechendes finanzielles Argument gegen einen Erasmus-Austausch geben, denn wer sich in Göttingen ernähren und ein Dach überm Kopf finanzieren kann, der wird dies ohne Zweifel auch in Trieste schaffen.

Nicht mit blanken Ziffern errechenbar ist hingegen der Gegenwert, der einem abseits von Kreditpunkten und Zeitaufwand für dieses Arbeits- und Kostenintensive kleine Abenteuer geboten wird. Um diese rational so schön fassbare Rechnung nicht zu stark mit meiner persönlichen Meinung zu verderben spare ich mir die Bewertung dessen zu diesem Moment.

Abschließend zum Punkt Grundsätzliches unter der Überschrift „Vor der Entscheidung“ muss ich zusammenfassen, dass eine Entscheidung für Trieste also auch von ganz greifbaren Faktoren abhängig sein kann. Irgendwie muss man es sich schon leisten können und –wollen - und dies vorher auch gerne einmal mit dem spitzen Bleistift und allen Eventualitäten kalkulieren, denn im Nachhinein zu erkennen, dass das Geld nicht reicht, ist hart.

Zudem sollte man sich bewusst darüber sein, was abseits des Zählbaren an Belastung auf einen zukommt und was vorzuwahnen meinerseits wenig Sinn macht, angesichts der verschiedenen Charaktere der Menschen. Ist man organisatorisch fit genug? Kann man sich allein zurechtfinden – allein leben ohne unmittelbar verfügbare Bezugspersonen? Ist man in der Lage, auch ungewöhnliche Herausforderungen, z.T. unangenehme Wege zu gehen und kann man mit Fremden übereinkommen? Und das in einer doch arg fremden Sprache, die nur die Wenigsten von Schulzeiten her kennen dürften.

Nicht falsch verstanden werden darf diese Passage, denn sie ist meinerseits, wie auch der Rest dieses Berichts, als ausgesprochene Befürwortung eines Auslandsstudiums zu bewerten. Dennoch sollte man sich in jeder der oben genannten Fragen in der Lage fühlen dieses auch erfolgreich anzugehen, wobei nicht außer Acht gelassen werden darf, dass man immer auch an seinen Aufgaben wächst – und ganz außerordentlich bei dieser, wie ich bemerken darf, obwohl ich vorher schon beachtlich groß war.

Die Stadt
Trieste bildet, wie wohl hoffentlich jeder wissen sollte der ein Studium hier in Betracht gezogen hat, den letzten Zipfel Italiens am äußersten östlichen ende im Norden. Die Stadt hat seit ihrer Gründung eigentlich stets bewegte Zeiten erlebt, war Macht- und Handelszentrum, Spielball der Herrschenden und selbst eine Art früher "Global-Player", lange Zeit in großer Rivalität zum damals übermächtig erscheinenden und Einflussreichen Venedig. 

Nicht zuletzt liegt Trieste ja auch am nördlichen Ende des Gebietes Istrien. Als Verbindungspunkt zwischen den Kulturen einerseits und Streitobjekt andererseits stand Trieste zwischenzeitlich unter der Herrschaft verschiedener Staaten und Bündnisse, auch unter (damals frei gewähltem) österreichischem Protektorat sowie in deutschen Händen während des 2. Weltkriegs um dann im Oktober 1954 wieder an Italien angegliedert zu werden. So hatte ich das große Vergnügen 2004 den 50-Jahr-Feierlichkeiten der Wiedervereinigung beiwohnen zu können, die auch wirklich ausdauernd und ausgiebig über mehrere Monate praktiziert wurden. 

Trieste hat heute rund 230.000 Einwohner. Damit ginge es in Deutschland höchstens als eine durchschnittliche Großstadt der unteren Preisklasse durch. Zum Vergleich: Kassel hat ungefähr die gleiche Einwohnerzahl. Allerdings war Trieste ja irgendwie schon immer etwas Besonderes und hat sich dies ganz eindeutig auch bis heute bewahrt. 

Nach meiner Ankunft hier kam mir die Stadt zum einen wirklich sehr viel größer vor, als einem die Zahl 230.000 zunächst glauben machen will; zudem viel bedeutender als etwa Kassel und auch sehr viel belebter und gedrängter als ich es erwartet hätte.
Abenddämmerung über dem Golf von Trieste
Erklärbar ist dies zum einen mit den geographischen Gegebenheiten des Stadtgebiets. Trieste wird zu 3 Seiten ganz strikt an der weiteren Ausdehnung gehindert. 


Das Meer auf der einen, die Berge auf der anderen, und die Grenze zu Slowenien auf der nächsten Seite verhindern, dass die Bevölkerung, wie bei anderen großen Städten irgendwann in der Stadtentwicklung üblich, in Vororte oder entferntere Ortsteile ausweichen kann und binden fast alle der 230.000 Einwohner in die Grenzen der Kernstadt. Somit ist die Stadt bis auf wenige Ausnahmen weitgehend ohne so genannte Ortsrandlagen und erscheint dadurch schlicht größer und auch derart belebt und hektisch. 

Das Rathaus in Landesfarben
Die allermeisten Gebäude sind vielgeschossig, das Ein- oder Zweifamilienheim ist eine Seltenheit. Überhaupt trägt auch die Architektur der Stadt ihren Teil dazu bei, sich hier und da schon einmal klein und etwas verloren zu fühlen zwischen den Schluchten der massiven Palazzi mit ihren erhabenen Erschein-ungen. Eine verträumte Alt- oder Innenstadt nach typisch italienischem Strickmuster sucht man in Trieste vergebens. 

Einzig ein winziger Teil hinter dem großen Piazza Unitá hat noch ein paar wenige enge Gassen, allerdings auch gesäumt von hohen, fast komplett renovierten und restaurierten Fassaden. Deutsche Kommilitonen aus München berichteten mir, dass man hier etwas das Gefühl der bayerischen Hauptstadt verspürt, rein städtebaulich versteht sich. 

Die eigentliche Innenstadt erstreckt sich von der Philosophischen Fakultät als Ostgrenze bis zum Bahnhof als Westgrenze; von der neuen Uni im Norden bis zum Wasser im Süden. Innerhalb dieses Radius finden sich alle maßgeblichen Einrichtungen, Behörden, kulturellen und touristischen Zentren, Einkaufsgelegenheiten etc.. Es bietet sich an, in diesem Bereich nach einer Wohngelegenheit Ausschau zu halten. Der Rest des Stadtgebiets ist entweder Industrie und Hafen (vornehmlich im Osten), Wohngebiet (Nordosten und Norden) oder aber Vorort mit kleineren Wohneinheiten (genau- die einzige Seite, die nicht begrenzt ist) im Westen. 

Trieste ist eine reiche Stadt. Ein Grund und gleichzeitig Anzeichen dafür erkennt jeder schon beim ersten Gang durch die Strassen, denn es gibt mehr Geldautomaten und dazugehörige Banken als Parkplätze und mindestens ebenso viele Versicherungsgesellschaften. Die große Generali- Gruppe z.B. hat in Trieste ihre Heimat und wenn man sich die Beschriftungen der alten und großen Piazzi im Stadtgebiet mal genauer ansieht, kommt es einem immer wieder so vor, als ob die Hälfte der Gebäude ihr gehörten. An allen Ecken und Enden wird gebaut, renoviert und restauriert und viele Baustellen sind bereits abgeschlossen. So erscheint die Stadt wie kaum eine andere mir bekannte italienische Metropole vielerorts rundum- renoviert und die großen repräsentativen Gebäude mit ihren schmuckvollen Details, Verzierungen und Giebeln bringen so manchen Fotoapparat (meist österreichischer Besitzer) zum glühen.

Bevölkerung
Es ist schwierig, die Bevölkerung Triests zu beschreiben, denn es gibt zahllose mögliche Ansatzpunkte. Leider ist mir im Laufe meines Aufenthalts hier keine statistische Erhebung über die Bevölkerung in die Finger gefallen – das wäre mit Sicherheit eine wahrhaft interessante Lektüre gewesen, denn sie ist, und das sage ich jetzt ohne einen gesicherten Beweis dafür führen zu können, schlicht gesagt anders. Anders als in Göttingen, anders als in Rest-Italien, anders als in Slowenien oder Deutschland. Anders eben. Der Triestiner an sich ist eine, so habe ich es empfunden, eher scheuer und selten zu bewundernde Spezies. Ob es überhaupt große Triester Familien mit Tradition über mehrere Generationen gibt, ist mir nicht aufgefallen. Fest steht aber, dass die Triestiner gern unter sich bleiben – und das gilt in jeder Beziehung. 

Der letzte verbliebene Kanal Triests:Canale Grande
Zudem sammeln sich in Trieste meiner Ansicht nach viele, die zwar in Trieste wohnen, aber sich selbst nicht als Triestiner sehen, selbst wenn sie schon eine beträchtliche Zeit hier verbracht haben. Die Stadt beherbergt viele Istrianische zuge-zogene, also Kroaten, Slowenen und auch Albaner, da sie trotz Kalter- Kriegs- Zeiten und der unmittelbaren Nähe zur Zonengrenze und trotz der Tatsache, diesbezüglich wenig Förderung durch den italienischen Staat erhalten zu haben, immer sehr finanz- und wirtschaftsstark geblieben ist und Arbeit für diese Bewohner bietet. Das darf jetzt nicht falsch verstanden werden, denn diese Istrianer sind hier nicht als Gastarbeiter angesehen, sondern genießen einen ähnlichen Status wie die restlichen zugezogenen „Italiener vom Stiefel“, wie mir einmal ein echter Triestiner berichtete. Mindestens ebenso viele Triestiner haben ihre Wurzeln in Rest-Istrien wie in Rest-Italien und die ganze Zugehörigkeitsahngelegenheit ist für die Triestiner ohnehin eine offene Frage. Zwar ist man froh, seit 50 Jahren wieder offiziell zum italienischen Staatsgebiet zu gehören, im Herzen wäre man aber doch irgendwie lieber eine Art Freistaat oder noch besser etwas wie ein Fürstentum.

So erklärt sich auch eine Eigenart, die allerdings nicht nur in Trieste, wenngleich auch hier besonders stark ausgeprägt ist, sondern in ganz Norditalien. Die „Lega Nord“ und andere, freundlich als ultrakonserativ zu charakterisierende Parteien Italiens, sind in Trieste stark und auch öffentlich deutlich erkennbar. Dies mag wohl unter Anderem auch damit zusammenhängen, dass Trieste auch eine „Stadt der Alten“ und damit auch oft tendenziell konserativen Menschen ist. Dieser Umstand drückt sich entgegen dem, was man in dieser Konstellation bei uns erwarten würde, in keiner gesteigerten Fremden- oder Ausländerfeindlichkeit aus, wie man sie von deutschen Ultra-Rechts-Parteien immer wieder vorgeführt bekommt, auch nicht in gewalttätigen Ausschreitungen oder Übergriffen, sondern vielmehr in einem z.T. sehr offen und direkt zu Tage getragenem (Lokal- und Regional-) Patriotismus, der dem geschichtsbewussten Bundesbürger dann und wann schon einmal eine Gänsehaut über den Rücken treibt. 

Pzza. Unitá am Tage
Die Überalterung der Stadt ist eine Problematik, wie sie auch z.B. in deutschen Zonenrandgebietsstädten oft auftritt (sieht man jetzt von Göttingen als Gegenbeispiel ab). Junge Generationen sind über Dekaden aus der Stadt gezogen um im Rest des Landes neue Perspektiven zu finden und so gehen selbst die 20.000 Studenten in Trieste einfach im „Wust der Alten“ unter, wenn man das so subjektiv bemerken darf. Auf der anderen Seite war es für mich persönlich eine ganz neue Erfahrung, ältere Mitbürger in dieser Form am öffentlichen Leben teilhaben zu sehen, denn hier vor Ort verstecken sich die betagten ganz und gar nicht in ihren eigenen vier Wänden, wie man es doch oft zuhause gewohnt ist. Ganz anders in Trieste. Hier putzen sich die Omas (Entschuldigung) abends noch mal richtig heraus, legen Farbe und Robe an und bevölkern die Piazze und Promenaden, die Cafes und Ristoranti um mit gleichalten lauthals zu tratschen und zu gestikulieren.
Indes versteht man nur selten Gesprächsfetzen, denn der triestiner Dialekt, den vor allem die älteren Herrschaften mit Vorliebe benutzen, ist gelinde gesagt ziemlich „strano“ für einen Ausländer. Zum anderen sammelt sich, und das ist wieder durchaus mit deutschen Verhältnissen vergleichbar, bei der Großelterngeneration eine nicht unerhebliche Finanzkraft. Dem Rechnung tragend hat sich eine Industrie um diesen Kundenkreis herum gebildet.

Quelle:
http://www.stellenboersen.de/ausland/laender/italien/05triest-vor-der-entscheidung.html

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